Hinduismus: Samsara und Erlösungsstreben

Hinduismus: Samsara und Erlösungsstreben
Hinduismus: Samsara und Erlösungsstreben
 
Gegen Ende der vedischen Periode war die Einteilung der Bevölkerung in die vier Stände (»Varna«, eigentlich = Farbe), in Brahmanen (Priester), Kshatriyas (Krieger, Adel), Vaishyas (Ackerbauern und Kaufleute) und die Shudras (Knechte), voll entwickelt. Nur Angehörige der ersten drei Stände waren berechtigt, die Veden zu hören. Diese Einteilung der Gesellschaft in vier Stände lebt bis heute im Kastenwesen fort.
 
Nach den Gesetzbüchern des Manu, dem berühmtesten Rechtsbuch der Frühzeit, hat jeder Stand seine eigenen Pflichten (Dharma): Den drei ersten Ständen gemeinsame Dharmas sind das Veda-Studium, die Ausführung bestimmter Opferhandlungen und die Gewährung von Geschenken. Die Brahmanen sollen außerdem den Veda lehren, Opfer für andere darbringen und Geschenke empfangen. Der Kshatriya soll sein Land und das Volk beschützen. Die Pflicht eines Vaishya ist es, Viehzucht, Ackerbau und Handel zu betreiben sowie Geld zu verleihen. Die Shudras sollen den drei übrigen Ständen dienen. Diese Lehre von den jedem Stand eigenen Pflichten bildet eines der Hauptthemen in der im »Mahabharata« enthaltenen »Bhagavadgita«, dem »Gesang des Erhabenen«, einem Grundwerk der hinduistischen Bhakti-Bewegung, in der die völlige Hingabe in Gottesliebe an einen Gott - hier den Gott Krishna - gelehrt wird.
 
Das Leben eines rechtgläubigen Hindus ist in vier Stadien (Ashrama) eingeteilt. Während des ersten Stadiums soll er als Brahmacarin (= Schüler) bei einem Brahmanen in die Lehre gehen und den Veda studieren. Die Einführung bei einem Lehrer soll bei einem Brahmanan im 8., bei einem Kshatriya im 11. und bei einem Vaishya im 12. Jahr nach der Empfängnis stattfinden, kann aber auch auf später verschoben werden. Im dritten Lebensstadium gründet der fromme Hindu als Grihastha (= Hausherr) eine Familie und übt seinen Beruf aus. Nach der Erfüllung dieser Dharmas zieht er sich aus dem aktiven Leben zurück und lebt als Waldeinsiedler (= Vanaprastha) - mit oder ohne seine Gattin - im Wald von Früchten und Wurzeln ein Leben der Kasteiung und Andacht. In seiner vierten Lebensstufe zieht er ohne Besitz als heimatloser Asket (= Parivrajaka) mit kahlgeschorenem Haupt, nur mit einem Lendenschurz bekleidet und mit Büßerstab und Almosenschale ausgestattet, umher. Er gibt sich ganz der Meditation über die Vergänglichkeit des Irdischen und der Suche nach dem Heil hin.
 
Die Lehre von den vier Lebensstadien wird in dieser strengen Form nicht von allen Hindus verwirklicht. Sie zeigt aber die große Bedeutung, die Meditation, Weltentsagung und das Erlösungsstreben um die Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. gewonnen hatten. In den Upanishaden finden wir zum ersten Mal den Glauben daran, dass das Tun (= Karman) während eines Lebens Ursache für die Wiedergeburt in einem neuen irdischen Dasein ist. Die Grundlage hierfür bilden die beiden Überzeugungen, dass Taten eine über das gegenwärtige Leben hinausgehende Wirkung haben und dass gute oder schlechte Taten nicht nur in einem unsichtbaren Jenseits, sondern auch im Diesseits in einer neuen Existenz vergolten werden müssen. Der Tod trennt die unsterbliche Seele (= Atman) vom Körper, den diese verlässt. Der alte Körper geht zugrunde und an seine Stelle tritt ein neuer Leib, in dem die Seele wieder geboren wird. So entstand die Vorstellung, dass jedes Dasein in der Welt ein anderes voraussetzt, in dem die Taten begangen wurden, die in der augenblicklichen Existenz vergolten werden. Die Qualität des jetzigen Lebens wird durch das Handeln im vorherigen Leben beeinflusst. Jeder Mensch gestaltet also sein zukünftiges Leben selbst; damit wird das Wirken eines richtenden obersten Gottes überflüssig. Andererseits führt dies zu der Annahme einer anfangslosen Folge von Existenzen, zum Glauben an eine periodische Weltschöpfung und Weltvernichtung und an einen unaufhörlichen »Kreislauf von Geburten und Wiedergeburten« (= Samsara).
 
Gemäß der späteren Lehre bewirkt gutes Handeln eine Wiedergeburt in einer glücklichen Existenz und in einem hohen Stand, schlechtes Handeln die Geburt in einem niederen Stand. Das richtige Handeln besteht vor allem in der Erfüllung der seiner Kaste gemäßen Pflichten. Auch die Götter unterliegen diesem Gesetz des Karma. Sie besitzen im Vergleich zu den Menschen jedoch eine längere Lebenszeit und übernatürliche Kräfte. Ein Mensch kann im nächsten Leben selbst zum Gott werden, wenn er nur genügend gutes Karma ansammelt; ein wahrhaft Weiser erkennt jedoch, dass die Wiedergeburt als Gott nur ein vergängliches Glück bietet. Sein Ziel ist das Heraustreten aus dem Geburtenkreislauf und das Eingehen in das Brahman. Schon in den frühen Upanishaden hatte sich die Vorstellung herausgebildet, dass die Erkenntnis der Identität von Einzelseele (= Atman) und Weltseele (= Brahman) zur Überwindung des Geburtenkreislaufs (= Samsara) führe.
 
Um die erlösende Befreiung zu erreichen, ziehen sich viele Weise in die Waldeinsamkeit zurück oder führen ein Leben als Asketen und versuchen durch Meditation und spezielle Übungen den Weg aus dem Samsara zu finden. Diese bis zur äußersten Grenze der körperlichen und geistigen Anstrengung gehenden Askese-Praktiken sind als Yoga-Übungen bis heute bekannt.
 
Dr. Siglinde Dietz
 
 
Sivaramamurti, Calambur: Indien. Kunst und Kultur. Übersetzung und Bearbeitung der deutschen Ausgabe von Oskar von Hinüber. Freiburg im Breisgau u. a. 41987.

Universal-Lexikon. 2012.

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